Ganz Deutschland blickt derzeit (an)gespannt bis neidisch auf das pittoreske Unistädtchen Tübingen, dessen Oberbürgermeister Boris Palmer mit seinem Corona-Modellprojekt „ein Experiment mit offenem Ausgang“ riskiert, um Alternativen im Umgang mit den steigenden Inzidenzahlen aufzuzeigen. Den Mut und das Selbstbewusstsein, ein solches Projekt zu initiieren und in seiner Stadt durchzusetzen, legt der Kommunalpolitiker auch bei der Frage an den Tag, wie sich die Pariser Klimaschutzziele im Kleinen vor Ort, sprich durch einen Wirtschaftsklimapakt und strikte Regelungen wie zum Beispiel einer Solarpflicht für Dächer umsetzen lassen.
Auftakt mit Paukenschlag
In seinem Auftaktvortrag beschrieb der prominente Keynote-Speaker, wie seine Stadt Tübingen es schaffen will, ab 2020 binnen zehn Jahren klimaneutral zu werden – was ohne Zwang oder eben Bürgerpflicht nicht umsetzbar sei.
So begann das 1. Digitale Fachforum Gebäudehülle im Fokus mit einem Paukenschlag: lässig, kurzweilig und auf den Punkt gebracht vorgetragen, machte Boris Palmer in einfachen, aber direkten Worten klar, wie sich seiner Ansicht nach Klimaschutz im Gebäudebereich um- und durchsetzen lässt. Mit seinen Ausführungen ging er dabei so weit ins fachliche Detail, wie man es von einem Politiker nicht gewohnt ist bzw. kaum erwarten würde – seine Vorstellungen und Ideen sind konkret und stichhaltig begründet, und weil er anscheinend sehr genau weiß, wovon er spricht, kann er auch auf den Rückhalt der Wirtschaft und seiner Bürger setzen.
In seinem dreißigminütigen Vortrag erörterte er, warum es binnen zehn Jahren nicht gelingen kann, allein durch energetische Sanierungen Tübingen im Gebäudesektor klimaneutral zu machen – es braucht stattdessen einen Austausch der städtischen Energieversorgung hin zu CO2-neutraler Erzeugung mittels Biomasse und Solarthermie. Um diese Energie in die Häuser zu bringen, soll das Fernwärmenetz um den Faktor 2,5 auf 400 GWh ausgebaut werden, verbunden mit ausnahmslosem Anschlusszwang, um die Energie wirtschaftlich und ohne Fördergelder in Anspruch nehmen zu müssen, an die Haushalte zu verkaufen. Auch die Mobilität in der Stadt muss sich für das Ziel der Klimaneutralität entsprechend verändern – dazu gehören eine Carsharing-Flotte, kostenfreier ÖPNV und Parkraumverknappung. Anstatt 30 000 bis 50 000 Euro für Tiefgaragenstellplätze bei Neubauten in den Verkaufspreis einzukalkulieren, wäre es doch sinnvoller, auf diese Investitionen zugunsten bezahlbaren Wohnraums zu verzichten, so Palmer. Die regulatorischen Eingriffe seien zugegebenermaßen sicher massiv bis provokativ, aber er höre auf Nachfragen keine Alternativen, wie sonst eine Stadt ihr fossiles Energiesystem binnen zehn Jahren decarbonisieren könne. Wer sich diese Lehrstunde einer klimagerechten kommunalen Energiepolitik noch einmal in Ruhe zu Gemüte führen möchte, findet die Aufzeichnung des Vortrags unter bit.ly/GiF_Palmer auf Youtube – weitere Details zu dem Tübinger Konzept können potenzielle Nachahmer oder kritische Argwöhner unter www.tuebingen-macht-blau.de nachlesen.
Kurzvorträge der Bauindustrie: Quer durch die Republik
Weil Tübingen nun mal Tübingen und nicht Bochum oder Cottbus ist, wo ganz andere politische, wirtschaftliche und örtliche Gegebenheiten herrschen, lassen sich derartige Strategien nicht beliebig auf andere Städte und Kommunen übertragen. Trotzdem zeigt das Beispiel, was mit kreativen und durchdachten Konzepten und Ideen möglich ist. Dies belegen auch die Innovationen aus der Bauindustrie, die bei dem Fachforum ebenfalls eine Plattform bekommen haben. Dabei ging es quer durch die Republik – von Süden nach Norden, von Westen nach Osten. Und um ein buntes Potpourri an Bauprodukten.
Den Auftakt machten die Unternehmen Colt International, Solarlux, Solarwatt und Swisspacer. Dabei stellten sie Themen vor wie Sonnenschutz und seine optimale Integration in die Gebäudehülle, nachhaltige Fassadenlösungen für Sanierung, Umnutzung und Nachverdichtung, Lösungen für gebäudeintegrierte Photovoltaik und um den energetischen Einfluss von Abstandhaltern bei Isolierverglasungen.
In der zweiten Vortrags-Session mit den Vertretern der Bauindustrie ging es um unterschiedliche Nachhaltigkeitskonzepte der Dämmstoffbranche. Die Firma Rockwool verweist in dem Zusammenhang darauf, dass Steinwolle ohne Qualitätsverluste immer wieder recycelt werden kann – bis 2030 will das Unternehmen in 30 Ländern ein Rücknahmesystem für Dämmstoffverschnitt und sortenreinen Abfall bei Rückbauten installiert haben. Mit seinem Hochleistungsdämmstoff Calostat sieht sich der Hersteller Evonik in der Lage, durch den bemerkenswert niedrigen Wärmeleitfähigkeitswert von λ= 0,019 W/(mK) bei gleichzeitiger Nichtbrennbarkeit in der Nachhaltigkeitsfrage durch Flächengewinn in Regionen zu punkten, wo Bauland knapp und teuer ist. Saint-Gobain Weber setzt mit seinem recycelbaren WDVS weber.therm circle auf das mehrfache Verwenden grauer Energie und ist zuversichtlich, dass die momentanen Mehrkosten von zehn bis 20 Prozent gegenüber konventionellen Systemen umso schneller sinken, je besser der Markt solche Innovationen aufgreift. Der Branchenprimus Sto präsentierte mit StoTherm Wood und G StoTherm AimS zwei neue WDVS-Lösungen, die auf Holzweichfaser bzw. einer zementfreien Produktlinie basieren und beide mit dem Blauen Engel ausgezeichnet sind.
Bei der dritten Runde mit den Herstellern ging es um das Thema Fassade. Diese müssen nicht nur gut aussehen, sondern ihre Schönheit auch möglichst lange bewahren! Die Firma Baumit zeigte auf, wie sich mit dem Modellierputz CreativTop-Serie durch dem sogenannten Drypor-Effekt möglichst dauerhaft verschmutzungsarme Oberflächen umsetzen lassen. Ein wichtiges Detail bei vorgehängten Fassaden ist das Vermeiden von Wärmebrücken durch die Verankerung – der Hersteller Schöck hat mit dem Isolink Typ F einen Fassadenanker aus Glasfaser entwickelt, der 200 Mal besser dämmt als Wandhalter aus Aluminium.
Weil das Bauen durch die gestiegenen Anforderungen beim Wärmeschutz nicht nur komplexer, sondern auch planerisch anspruchsvoller geworden ist, bekommt die Simulationstechnik in der energetischen Beratung auch durch BIM zunehmende Bedeutung. Hottgenroth erläuterte in dem Zusammenhang die von dem Unternehmen programmierte ETU-Simulation.
Im Anschluss stieg der Hersteller puren mit den Teilnehmern aufs Steildach, um aufzuzeigen, wie sich mit einer Aufsparrendämmung aus PU-Hartschaum bei einer Sanierung die Aufbauhöhe reduzieren und Wärmebrücken minimieren lassen.
Weitere innovative Produktlösungen der Hersteller waren hochwärmedämmende Kunststofffenster mit Glasfasertechnologie (Fa. Deceuninck), dezentrale Lüftungsgeräte wie das schalldämmende Fassadenelement LUNOTherm-S oder aber nutzerfreundliche und einfach funktionierende Fensterlüfter (Fa. Regel-air). Sämtliche Vorträge der Hersteller sind unter www.geb-info.de/gebaeudehuelle2021-rueckblick noch einmal fürs Nachhören anklickbar.
Spannende Gebäudehülle-Highlights
Was haben der Kuwait International Airport, der Kö-Bogen II in Düsseldorf oder die Calwer Passage in Stuttgart gemeinsam? Bei allen diesen Projekten hatte die Werner Sobek AG mit dem Partner und Vorstand Dr.-Ing. Lucio Blandini die Hand im Spiel. Der Professor und Leiter des Instituts für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) an der Universität Stuttgart ist mit der werkstoffübergreifenden Entwicklung von Bauweisen, Tragstrukturen und eben auch Gebäudehüllen fachlich versiert, weshalb er in seinem Vortrag diese drei Projekte zum Anlass nahm, den Teilnehmern spannende Einblicke in gestalterische und konstruktive Gebäudehüllen-Highlights zu gewähren. Dabei reichten die Ahs und Ohs von der 320 000 m2 umfassenden Dachfläche des neuen Terminalgebäudes in Kuweit ohne eine einzige Dehnfuge über die mit 30 000 Hainbuchen bepflanzte Gebäudehülle des Kö-Bogens II bis zu dem Ersatzbau der Calwer Passage mit grün berankter Fassade zur Verbesserung des Mikroklimas und Reduzierung der Feinstaubbelastung in der Schwabenmetropole. Allesamt keine alltäglichen Aufgaben für Energieberater, aber dennoch beeindruckende Beispiele für multifunktionale Gebäudehüllen mit Strahlkraft, die vielleicht auch im Kleinen so manche revolutionären Ideen hervorbringen können.
Fossile Gebäudedämmung im Kreuzfeuer der Kritik
Keinen einfachen Stand hatte Tobias Schellenberger vom Industrieverband Polyurethan-Hartschaum e. V. bei der Frage, welchen Beitrag die Gebäudedämmung in der gesamten Energiebilanz für nachhaltige Gebäudekonzepte leisten kann und wie sich das Dämmen mit PU möglichst klimaneutral gestalten lässt. Hier steht die Branche zweifellos vor dem Problem, dass die Herstellung von geschäumten Dämmstoffen auf dem fossilen Rohstoff Erdöl basiert und man bislang noch am Anfang steht, das Treibhausgas Kohlendioxid als Rohstoff für die Kunststofferzeugung nutzbar zu machen. Gelingt dies, ließe sich der Erdölverbrauch um bis zu 20 Prozent reduzieren.
Den kritischen Fragen aus dem Chat zum ökologischen Fußabdruck von PU-Dämmstoffen konnte der Geschäftsführer des IVPU entgegensetzen, dass derzeit nur etwa vier Prozent des weltweit geförderten Erdöls stofflich verwertet werden – fast der gesamte Inhalt der Öltanlker geht also direkt in die Verbrennung, während ein erdölbasierter Dämmstoff binnen sechs bis 24 Monaten den Energieeinsatz des Rohstoffs durch eingesparte Heizenergie wieder wett macht.
Wärmedämmung: Lohnt sich das überhaupt?
Dieser viel und oft auch kontrovers diskutierten Frage stellte sich Andreas Holm vom Forschungsinstitut für Wärmeschutz (FIW). Tatsächlich belegte er anhand umfangreicher, wissenschaftlicher Studien den Nutzen und auch die Notwendigkeit der Gebäudedämmung. Das Zünglein an der Waage sind die Berechnungsmethoden, wobei ein stochastischer Ansatz die Bedingungen weitaus detaillierter analysiert und somit präzisere Ergebnisse liefert als ein deterministischer Ansatz. Seine wohl spannendste Aussage war: Egal welcher Dämmstoff – die energetische Amortisationszeit liegt bei maximal 1,5 Jahren.
Prêt-à-porter – welches Fassadenkleid passt zum Konzept?
Für den letzten Vortrag des Tages konnten die Teilnehmer zwei aus fünf vorgeschlagenen Projekten auswählen, bei denen das Gebäudekonzept eng mit der Gebäudehülle verknüpft ist. Während das Autarkie-Team um Timo Leukefeld bei dem Bau zweier Mehrfamilienhäuser in Lübben auf Enttechnisierung und Autarkie gesetzt hat, verfolgt das TRIQ-Konzept für ein ebenfalls energieautarkes Mehrfamilienhaus in Stuttgart dessen komplette Rückbaubarkeit dank einer massiven Holzbauweise nach dem Baustein-Prinzip. Eine abschließende Fragerunde markierte das Ende der Veranstaltung mit positivem Fazit.
Vorträge verpasst? Hier gibt’s die Links zum Nachhören!
Mehr als 850 Teilnehmer haben das 1. Digitale Fachforum Gebäudehülle im Fokus am 9. März interessiert verfolgt. Es gab dazu viele positive Rückmeldungen, über die sich die Veranstalter, die Fachredaktionen Gebäude-Energieberater und GLASWELT sowie das perfekt im Hintergrund agierende Technikteam sehr gefreut haben. Wem trotzdem der eine oder andere Vortrag entgangen ist, weil der Briefträger geklingelt oder der Magen geknurrt hat, kann jedoch auf https://www.geb-info.de/gebaeudehuelle2021-rueckblick die Inhalte noch einmal Revue passieren lassen. Hier zudem ein paar Direktlinks zu ausgewählten Beiträgen:
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen: Wie viel Zwang muss sein für die Klimawende im Gebäudebereich? bit.ly/GiF_Palmer
Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini, Leiter des ILEK-Instituts: Einblicke in gestalterische und konstruktive Gebäudehüllen-Highlights bit.ly/GiF_Blandini
Christian Stolte, Bereichsleiter Energieeffiziente Gebäude bei der dena: Gebäudeenergiegesetz – was ist neu? bit.ly/GiF_Stolte
Andreas Holm, Geschäftsführender Institutsleiter des Forschungsinstituts für Wärmeschutz: Wirtschaftliche Amortisation und Ökobilanz von Dämmung bit.ly/GiF_Holm
Claudia Siegele, Redakteurin Gebäude-Energieberater: Gebäudekonzepte im maßgeschneiderten Kleid bit.ly/GiF_Siegele